Im Heimatmuseum der Ostseestadt Heiligenhafen ist eine Grab- bzw. Gedenkplatte ausgestellt, die Christoph und Adolf Neidhardt gewidmet ist. Die Grabplatte war früher auf einem Grabstein auf dem Grundstück von "Haus Wotan" angebracht. Letzteres gehört zu einer Perlenkette von Strandvillen, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem der Stadt vorgelagerten Graswarder erbaut wurden - damals noch eine Insel, heute eine mit der Stadt verbundenen Halbinsel.
Die Norderstedterin Antje Surenbrock, geb. Neidhardt, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind zeitweilig in der damals ihrer Familie gehörenden Strandvilla lebte, erinnert sich wie folgt an die Geschichte dieser Grabplatte: "Mein Urgroßvater Christoph Neidhardt hatte die erste Strandvilla als Architekt und Baumeistererrichtet. Sein Sohn, mein Großvater Dr. Adolf Neidhardt, Arzt, verstarb 1938 und mein Vater Dr. Adolf Neidhardt hat seinen Vater 1939 mit behördlicher Genehmigung auf dem Grundstück des Hauses Wotan als Urnenbegräbnis beisetzen lassen. Der Grabstein ist ein großer Findling, der noch heute in diesem Garten steht. Die daran befestigte bronzene Grabplatte haben wir seinerzeit abmontiert und sie befindet sich heute als Geschenk im Heimatmuseum der Stadt Heiligenhafen zusammen mit der bronzenen Büste meines Großvaters Adolf Neidhardt."
Christoph und Adolf Neidhardt, "Haus Wotan" und der Graswarder stehen in engem Zusammenhang mit der Gründung des Seebades Heiligenhafen - motiviert durch den Bahnanschluss, den Heiligenhafen 1898 erhielt. Das Seebäderwesen an Nord- und Ostsee fand im späten 19. Jahrhundert durch den Bau von Eisenbahnen enormen Auftrieb. Gerade Ostseebäder waren nun von den rasch wachsenden Städten wie Berlin und Hamburg schneller und leichter zu erreichen. Der Anschluss von Seebädern an die Eisenbahn wurde daher zu einem zentralen Katalysator für steigende Gästezahlen. Dies galt beispielsweise für Seebäder wie Warnemünde (Eisenbahn 1886) oder das bereits im frühen 19. Jahrhundert als Seebad begründete Travemünde (Eisenbahn 1882). Im Fall von Heiligenhafen aber wurde die Gründung des Seebades durch den Bahnanschluss überhaupt erst ins Auge gefasst. Damit suchte Heiligenhafen Anschluss an eine Entwicklung zu finden, die über 100 Jahre zuvor mit der Einrichtung des ersten deutschen Seebades 1793 im mecklenburgischen Heiligendamm bei Bad Doberan begonnen hatte. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde der Aufenthalt an den Meeresküsten in Deutschland als erholsam und gesundheitsfördernd propagiert. Neben dem Ostseebad Heiligendamm, dem unter anderem 1802 Travemünde folgte, entstanden auch an der Nordseeküste Seebäder: zunächst 1797 auf der ostfriesischen Insel Norderney, dann 1804 Wangeroog und Dangast, 1816 Cuxhaven sowie 1819 Wyk auf Föhr.
Heiligenhafen war bis zum Bau der Bahn trotz seines Hafens recht verschlafen. Der Schriftsteller Wilhelm Jensen charakterisierte den Ort in seiner 1890 erschienenen Novelle "Der Herr
Senator" in der Zeit vor Eisenbahnanschluss und Seebadprojekt wie folgt: "Das Städtchen ist noch eine Welt für sich, kaum von anderen Vorgängen als in seinem eigenen Inneren berührt.
Die Einwohner betreiben Gewerbe, Ackerbau, Fischfang, etwas Seefahrt, zumeist in nur kleinen Fahrzeugen nach be-nachbarten Häfen. Sie sind anspruchslos und ihr Erwerb genügt
ihnen".
Dies änderte sich mit dem Bahnanschluss 1898 entscheidend. Nun wurden die vorgelagerten Inseln bzw. Halbinseln des Stein- und Graswarders zum Schauplatz eines ambitionierten
Seebad-Projektes. Träger war die Deutsche Badegesellschaft Heiligenhafen A.-G., die in Erwartung des geplanten Bahnanschlusses bereits am 30. August 1895 gegründet worden war.
Initiatoren des Projektes waren Vertreter der lokalen Kaufmannschaft, der Politik und des Medizinalwesens, darunter der Arzt und Kreisphysikus Adolf Neidhardt, der Heiligenhafener
Bürgermeister Adolf Schetelig, der lokale Apotheker Hubert Friedrichs sowie die Kaufleute August Kühl (Heiligenhafen) und Caesar Führmann (Altona).
Wie eine Projektskizze dokumentiert, sollte nach 1900 das gesamte Areal des Gras- und Steinwarders sowie der angrenzenden Eichholzniederung touristisch entwickelt werden. Geplant
waren unter anderem Damen- und Herrenbäder, Strandhalle, Hotels und Heilanstalten Wichtige Voraussetzung war die Anbindung des Graswarders, der damals ja noch eine Insel war, an die
Stadt über eine rund 300 Meter lange Holzbrücke.
Um etwaige Konkurrenz auszuschließen, wurde der Badegesellschaft A.G. der gesamte Strandbereich von Gras- und Steinwarder verpachtet. Das ist auch insofern bemerkenswert, als der
Graswarder schon damals ein bedeutendes Brut- und Rastgebiet für Seevögel war (und es später, nach dem Ersten Weltkreig, Überlegungen gab, ihn als "Vogelfreistätte" unter Schutz zu
stellen).
Startschuss zu dem Projekt war zunächst der Bau von Strandvillen auf dem Dünenstreifen des Graswarders als Sommerfrischen für auswärtige Investoren. Sie dienten aufgrund ihrer
prominenten, vom Festland und der Bahnstrecke her gut sichtbaren Lage dazu, den Graswarder als Schauplatz des Seebades bekannt zu machen.
Diese Strandvillen wurden in der Zeit von 1901 bis 1910 fertiggestellt. Ihre Lage direkt am Strand der Ostsee entsprach der im wilhelminischen Zeitalter verbreiteten Sehnsucht nach unversehrter Natur. Eigentümer waren u. a. wohlhabende Fabrikanten, Kaufleute, Mediziner und Juristen aus allen Teilen Deutschlands. Die Bebauung erfolgte von West nach Ost, als erstes Grundstück wurde das heutige Haus Graswarder Nr. 5 ("Haus Wotan") errichtet. Die Bauten gehören zum Stil der so genannten Heimatarchitektur, die betont mit regionalen Baumaterialien arbeitete, typisch waren Fachwerk und Reetdach. Die Eigentümer ließen auch eine eigene Wasserversorgung vom Festland her anlegen, wovon früher ein Wasserturm zeugte.
Die erste Villa wurde, wie eingangs erwähnt, für den eigentlichen Initiator des Seebad-Projektes, den Kreisphysikus Adolf Neidhardt, im Jahr 1901 von seinem Vater, dem Architekten
Christoph Neidhardt, errichtet (der auch einige der folgenden Villa entwarf). Ihr Name "Haus Wotan" verweist in ihrer germanentümelnden Bedeutung auf die
deutschnational-antisemitische Ausrichtung der Seebad-Betreiber. Auch im Weiteren versuchte sich die Badegesellschaft A.G. mit Heiligenhafen als gezielt antisemitischem Seebad zu
profilieren. In ihrer Reklamebroschüre warben sie um ein deutschnationalvölkisch ausgerichtetes Publikum. Nicht verwunderlich ist daher, dass Heiligenhafen um 1900 - wie auch z. B.
Borkum - zu den dezidiert antisemitischen Seebädern in Deutschland zählte.
Aber das Projekt auf dem Graswarder blieb erfolglos und fand ein baldiges Ende. Nachdem die Besucherzahlen nicht wie erwartet angestiegen waren, stoppte eine unvorhergesehene
Entwicklung dann die weitere touristische Erschließung des Graswarders. In der Zeit um den Ersten Weltkrieg veränderten sich nämlich die Strömungsverhältnisse, und es kam zum Abbruch
des Strandes. Ein Grund für die veränderten Strömungen war die militärisch begründete Ausbaggerung des nahen Fehmarnsundes auf zehn bis zwölf Meter Tiefe für Marineschiffe. Auch die
errichteten Strandvillen waren konkret bedroht, einzelne wurden von den Fluten weggeschwemmt. Erst der mit staatlicher Unterstützung in den 1920er- und 1930er-Jahren vollbrachte Bau
von Buhnen als Uferschutzwerken, die die Strömung vom Graswarder ablenkten, rettete die meisten dieser Villen. Der Badebetrieb aber wurde künftig - und ist bis heute - auf den
Steinwarder konzentriert, wo es ausreichend Strand gegeben hat.
Große Teile des Graswarders wurden 1968 zum Naturschutzgebiet erklärt - betreut vom Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU). Die bis heute erhaltenen historischen Strandvillen stehen inzwischen unter Denkmalschutz und bieten eine der bekanntesten Ansichten der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. Aber ihre Existenz ist aktuell aufgrund ihrer prekären Lage auf dem schmalen Dünenstreifen des Graswarders durch die näherrückenden Meeresfluten erneut bedroht ...
Literaturhinweise:
- Klaus Dürkop (Hrsg.): Küste im Wandel - Graswarder-Heiligenhafen. Heiligenhafen 2015.
- Der Graswarder: Küstenlandschaft der Ostsee. Hrsg.: Norbert Fischer, Sonja Jüde, Stefanie Helbig, Gabriele Rieck. Hamburg 2011.
- Norbert Fischer: "In ganz besonderem Sinne Geist und Gemüth erfrischen" - Zur Geschichte des Seebades Heiligenhafen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Aus der Mitte des Landes. Hrsg. Detlev Kraack, Martin Rheinheimer. Neumünster 2013, S. 419-429.